Laut Langenscheidts zweisprachigem Universalwoerterbuch heisst "carretera" Landstrasse und "austral" suedlich bzw. Sued-.
Der Dumont-Reisefuehrer "Chile" beschreibt das Befahren des suedlichen Teils der einzigen Verkehrsader ueber Land in den Sueden des Landes als das Vordringen in Pionierland. Das klingt recht abenteuerlich, auch romantisierend, fast verklaerend.
Iwanowski dagegen bedauert, dass inzwischen ueberall Bruecken ueber die mehr oder weniger reissenden Fluesse gebaut worden sind, was die Fahrt einfach und langweilig gemacht haette. Frueher pfluegte und spritzte man wohl mit dem Four-Wheel-Jeep oder dem ausrangierten Feuerwehr- oder Polizei-Hanomag durch die Wasseradern, wenn die Wasserstaende es zuliessen, oder man benutzte Faehren, deren Reste man manchmal neben den Bruecken noch liegen sieht. Da ich Patagonien nicht als Spielwiese abgenteuerhungriger Allradfetischisten betrachte, teile ich seine Meinung nicht und freue mich fuer die Bevoelkerung, deren Entbehrungen dort in der Wildnis erheblich sind, und die durch die Verbesserung der Carretera mobiler und leichter erreichbar geworden ist. Das kommt zum Einen der Versorgung, die frueher meist nur ueber See erfolgte, zu Gute und zum Anderen den reisefreudigen Touristen wie mich, die nun auch dorthin fahren koennen um das Land kennen zu lernen und zu bewundern: Das "Southamerican Handbook" von Footprint betont die atemberaubenden und abwechslungsreichen Ansichten und Ausblicke und die Schoenheit der Natur entlang der Strecke. Nicht nur, weil ich ueberzeugte "Footprint-Southamerican Handbook"-Reisende bin und damit nicht der Mehrheit der Reisenden, die mit dem "Lonely Planet" unterwegs sind, angehoere, schliesse ich mich dieser Beschreibung am liebsten an und halte sie fuer am zutreffendsten.
Die Piste bleibt auch im jetzigen Zustand abenteuerlich genug: Von den 600 Kilometern zwischen Coyhaique und Villa O´Higgins sind nur 100 km bis Villa Cerro Castillo geteert. Ab dann wird auf grauem Schotter gefahren, meist ca. ein-einhalb-spurig, an Engstellen nur einspurig, mit haeufigen tiefen Schlagloechern, grossen Steinen und Waschbrett-Rillen.
Bei Gegenverkehr muss immer ausgewichen werden auf das unmarkierte, unbefestigte und schraeg abfallende Bankett. Vor allem entlang der Berge in schwindelnder Hoehe in Serpentinen nicht gerade einladend. Durchschnittlich schafften wir ca. 50 km in der Stunde. Ueberholen war spannend bis unmoeglich, LKWs fuhren an geeigneten Stellen rechts ran, liessen die Pickups durch oder man folgte ihnen ewig. Die chilenischen Autofahrer haben einen angsteinfloessenden Fahrstil. Sie brettern ueber die Piste und "fliegen" so ueber die Rillen hinweg, was den Wagen aber mehr oder weniger unmanoevrierbar macht. Sie rasen in uneinsehbare Kurven und das auf der linken Fahrbahn oder in der Mitte der Trasse, so dass Unfaelle zur Tagesordnung gehoeren. So fuhr auch ein Student aus Santiago mit seinem Renault Clio und drei Freunden im Wagen frontal in unseren Pickup bei dem Versuch, die Faehre nach Puerto Yungay um 13 Uhr - damit die letzte des Tages - noch zu erreichen. Leider kamen wir als erstes Auto gerade in entgegen gesetzter Richtung von eben dieser Faehre. Wir wollten vor den LKWs auf den Weg kommen. Nun, daraus wurde nichts! Verletzt war zum Glueck niemand. Der Pickup hatte nur eine Schramme an der Stossstange, deren Halterung war abegebrochen. Der Clio sah da anders aus: recht gestaucht! Der Fahrer konnte froh sein, dass Kurt, der die ganze Zeit wirklich ausgezeichnet fuhr, einen langsameren Fahrstil bevorzugte. Ab da hatten wir aber in jeder Kurve Angst, dass uns wieder ein Chilene "entgegen fliegen" koennte.
Gemaess Automietvertrag hatten wir den Unfall und den Schaden umgehend in der naechstgelegenen Polizeistation zu melden, was wir drei Studen spaeter, 130 km weiter auch ohne Verzoegerung in der 400-Seelen-Gemeinde Villa O´Higgins erledigten.
Der Bau der Carretera Autral war das ehrgeizige Projekt des ehemaligen chilenischen Diktators General Augusto Pinochet. 20 000 Zwangsarbeiter und das Militaer frassen sich mit Macheten Schaufeln, Baggern, und viel Dynamit durch das unwegsame Gelaende, ueber Paesse, durch den Kaltregenwald, ueber Berge, durch Suempfe, wo es zehn Monate im Jahr regnet, die Winter kalt, windig, verschneit und lang sind. Der Sueden sollte erschlossen und verkehrstechnisch an den Rest des Landes angeschlossen, die Besiedlung gefoerdert werden. Erinnerungstafeln entlang der Strecke gedenken bei den Bauarbeiten verstorbener Soldaten, an die Zwangsarbeiter erinnert nichts und an der Anlegestelle der Faehre in Puerto Yungay entdecken wir eine versteckte Gedenktafel, die Pinochet als den Initiator der Strasse wuerdigt.
Was weiterhin fehlt, ist die Fortsetzung von Villa O´Higgins ueber das Inlandeis nach Puerto Natales oder den Nationalpark Torres del Paine. Wie dieses strassenbautechnisch ueberbrueckt werden soll, ist mir ein Raetsel und ich glaube den chilenischen Strassenbauern auch, zumal man in der Demokratie die Arbeiter nicht mehr zwangsrekrutieren kann, sondern sie ordentlich bezahlen und versichern muss. 
Heftige Regenfaelle integrieren die Piste an manchen Stellen in die an den Felsen herabfallenden Wasserfaelle. Im Valle de Exploradoes warten wir sage und schreibe zwei Stunden darauf, dass die Strasse passierbar wird, weil wir uns nicht durch den tiefen und schnellen Wasserstrom fahren trauen. An der Stelle ist der rechte Teil der Trasse in den Fluss rechts von uns abgestuerzt und wir wissen nicht, ob die Breite ausreicht. Mit angehaltenem Atem und Vollgas ueberqueren auch wir die Stelle, aber erst nachdem uns einige Pickups vorgemacht haben wie es funktioniert. Zuweilen verwandelt sich die Strasse auch in einen See und wir wissen nicht wie tief der ist. Ich lehne mich aus dem Seitenfenster und beobachte den Wasserstand. Sobald der Ansaugstutzen des Motors ins Wasser ragt, ist es aus, sagt Kurt. Ich weiss aber gar nicht, wo der bei unserem Wagen genau liegt. Anscheinend war der See nicht zu tief. Heute wird die Trasse nach solchen Schaeden innerhalb von zwei bis drei Tagen repariert. Frueher dauerte es zwei bis drei Wochen.
Wir geniessen es, dass wir jederzeit und ueberall anhalten koennen, unser Zelt an jedem Ort, der uns zusagt, aufbauen koennen und so tatsaechlich frei und unabhaengig unsere Route nach und nach entdecken.
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